Höhlenlöwe

König ohne Krone

Löwen streiften einst auch durch das Gebiet der heutigen Schweiz. Während der Eiszeit jagten sie in den Bergtälern Steinböcke und junge Bären. Dank Höhlenmalereien wissen wir, dass sie mähnenlos waren.

König ohne Krone

Löwen streiften einst auch durch das Gebiet der heutigen Schweiz. Während der Eiszeit jagten sie in den Bergtälern Steinböcke und junge Bären. Dank Höhlenmalereien wissen wir, dass sie mähnenlos waren.

 
Blickt man von den Hügeln rund um Thun ins Tal, zeigt sich eine vertraute Szenerie: Dörfer und Strassen durchziehen die Landschaft, umgeben von Wäldern und Wiesen. Der Thunersee glitzert im Sonnenlicht, dahinter erheben sich schneearme Berge. Über allem liegt der ständige Klang menschlicher Aktivität.

Vor 30’000 Jahren bot sich hier ein anderes Bild: Die Bergkulisse mit Eiger, Mönch und Jungfrau war zwar vorhanden, doch mächtige Gletscher bedeckten die Alpen. Gewaltige Seen und fjordähnliche Wasserarme reichten bis ins heutige Bern. Die Landschaft war von spärlicher Vegetation geprägt und frei von menschlichen Spuren.

Wo heute Spaziergänger und Velofahrer auf asphaltierten Wegen unterwegs sind, zogen einst Rentiere durch eine karge Wildnis. Verfolgt wurden sie von einem der eindrucksvollsten Raubtiere der Eiszeit: dem Höhlenlöwen.

Der Panthera leo spelaea, wie er wissenschaftlich genannt wird, war Teil der mitteleuropäischen Tierwelt während vieler Jahrtausende.

Der Name Höhlenlöwe sei etwas irreführend, sagt Martina Pacher, Paläozoologin am Naturmuseum St. Gallen. «Diese Tiere lebten nicht in Höhlen, sondern nutzten sie als Rückzugsort oder verendeten darin, wodurch ihre Knochen erhalten blieben.»

Mehrere Fundorte belegen die Präsenz von Höhlenlöwen in der Schweiz: im Drachenloch im Kanton St. Gallen oder in der Chilchlihöhle oberhalb von Erlenbach im Simmental.

Ohne Mähne, besser angepasst

Grösser als heutige Löwen erreichten Männchen eine Schulterhöhe von über 1,2 Metern und ein Gewicht von bis zu 350 Kilogramm.

Wie ihre modernen Verwandten hatten sie gelbgraues Fell. Doch ihre Mähnenbildung war anders. Wie wir das wissen? Durch Höhlenmalereien, die Menschen aus dieser Zeit hinterliessen.

In der Höhlenkunst erscheinen diese Löwen ohne Mähne, was laut Pacher «auf einen geringen oder gar fehlenden Mähnenwuchs auch bei Männchen» hindeutet. Eine geringere Mähne könnte den Tieren geholfen haben, ihre Körpertemperatur besser zu regulieren und sich bei der Jagd effizienter zu bewegen.
 

Chauvet Höhlenlöwen
Mähnenlose Löwen: Steinzeit-Kunst in der Chauvet-Höhle. Bild: Équipe Chauvet

 
Pacher erklärt, dass die Raubkatzen vermutlich in kleinen Rudeln durch die Bergtäler streiften – mit einer Beute, die Rentiere, Steinböcke und möglicherweise junge Bären umfasste.

Und waren auch Menschen gefährdet? Auch sie lebten bereits in der eiszeitlichen Schweiz – nicht in grossen Gruppen oder gar Dörfern, sondern als umherziehende Jäger und Sammler, ausgestattet mit Speeren und Feuerstein. «Mensch und Löwe sind sich sicher begegnet», sagt Pacher.

Neben Darstellungen in Malereien gibt es Funde von Anhängern, die mit Löwenzähnen verziert sind, oder kleine, handgeschnitzte Figuren. Diese Überbleibsel deuten darauf hin, dass Löwen von Menschen gefürchtet und wohl auch verehrt wurden. Ob der Löwe in der Schweiz gezielt gejagt wurde, bleibt unklar – «vermutlich wurde er eher gefürchtet als verfolgt», sagt Pacher.

Neuankömmlinge aus Asien

Mit dem Ende der Eiszeit vor rund 14’000 bis 15’000 Jahren zogen sich die Gletscher zurück. Die offenen Tundren verschwanden, Wälder breiteten sich aus, das Klima wurde milder – viele Beutetiere des Höhlenlöwen zogen sich nach Norden zurück oder starben aus. «Für ein so spezialisiertes Raubtier bedeutete dies das Aus», erklärt die Paläozoologin. Die letzten Höhlenlöwen starben vor etwa 10’000 Jahren in Spanien aus.

Doch damit endet die Geschichte der Löwen in Europa nicht. Der moderne Löwe (Panthera leo), ein genetisch naher Verwandter des Höhlenlöwen, wanderte einige Jahrhunderte später von Asien nach Südosteuropa ein. Knochenfunde aus Bulgarien, der Ukraine und Griechenland belegen, dass diese Tiere dort bis etwa 4’000 v. Chr., also in der Kupferzeit, lebten.

Allerdings reichten diese Populationen nie bis in die Schweiz oder nach Mitteleuropa: Die dichten Wälder und Gebirge boten dem Steppenbewohner keinen geeigneten Lebensraum. Die letzten eurasischen Löwen verschwanden im Mittelalter, um 1’000 n. Chr., im Kaukasus.

Heute ist der Löwe auf kleine Bestände in Afrika und ein Reservat in Indien beschränkt. Nur schwer vorstellbar, dass er einst durch die Schweizer Voralpen streifte. Doch mit etwas Fantasie sieht man ihn noch: ein graugelber Schatten, der über das Geröll gleitet – auf der Fährte eines Steinbocks. Lautlos, kraftvoll. Ein Echo aus einer Zeit, in der die Schweiz noch pure Wildnis war – und der König der Tiere auch die Alpen regierte.

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