Reliquien sind für mich ein sehr spannendes Thema. Sie erzählen nicht nur von Frömmigkeit und Wunderglauben, sondern auch von Macht, Erinnerung und dem tiefen menschlichen Bedürfnis nach Nähe zum Heiligen. Und sie haben etwas Morbides an sich, in ihnen verbinden sich Körper und Symbol, Tod und Verehrung, das Irdische und das Göttliche. Nach der Lektüre von Holy Bones, Holy Dust suchte ich nach einem passenden Schweizer Schwerpunkt für einen Artikel – und fand ihn in der Geschichte um die Reliquien von Felix und Regula. Ich konnte dazu ein Interview mit Peter Opitz von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich führen. Der Artikel ist nun bei SWI swissinfo.ch erschienen.
Nach dem Abschluss dieser Recherche widme ich mich derzeit wieder den Kelten. Im Zentrum steht das Forschungsprojekt CELTUDALPS, das die Mobilität, den kulturellen Austausch und die Identität in der Eisenzeit im Alpenraum untersucht. Auch dazu konnte ich ein spannendes Interview führen – mehr dazu bald.
Hier nun aber das komplette Interview mit Peter Opitz:
Welche Bedeutung hatten Reliquien wie jene von Felix und Regula für Städte wie Zürich im Spätmittelalter – geistlich, sozial und politisch?
Im Spätmittelalter war die Reliquienfrömmigkeit sehr ausgeprägt. Orte mit vielen und bedeutenden Reliquien wurden Ziel vieler Pilger, hatten kirchliches und politisches Prestige und konnten dies oft auch wirtschaftlich ausnutzen. Politische Fürsten, Städte und Kirchen sammelten Reliquien, sodass es teilweise einen regelrechten Reliquienhandel und also -markt gab. Insbesondere für die Kirche war der Reliquienkult ein gutes Geschäft. In einer Gesellschaft, in der es sowieso unmöglich war, Religion, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sauber voneinander zu trennen, waren Reliquien sowohl religiös wie wirtschaftlich und politisch bedeutsam. Reliquien wurden nicht nur gekauft und aufbewahrt, sondern auch «umgebettet», also in feierlicher Prozession und in Form eines kirchlichen Volksfestes an einen anderen Ort verlegt. Dazu kamen mit solchen Orten verbundene Heiligenerscheinungen, Wunder und Heilungen verschiedener Art. All dies brachte Ansehen – und Geld.
Was weiss man über den Umgang mit Heiligenreliquien während der Zürcher Reformation? Gab es Versuche, sie gezielt zu retten oder zu verstecken – oder war ihr Schicksal meist besiegelt?
Reformation bedeutet: die (selbst)kritische Prüfung der Gegenwartsfrömmigkeit am Massstab des biblischen Gotteszeugnisses, denn die biblischen Schriften sind ja die einzigen und frühesten Quellen, die uns über Christus und den christlichen Gott Auskunft geben. Christen glauben überdies, dass Gott durch diese biblisch-menschlichen Zeugen selbst das Wort ergreift. Sie bilden damit auch das Kriterium, um zwischen echtem christlichem Glauben und religiöser Fantasie und Aberglauben zu unterscheiden («religiös» und «spirituell» kann alles oder auch nichts sein). Reliquienfrömmigkeit ist, ganz knapp formuliert, der Glaube, durch eine physische Nähe zu Knochen oder Gegenständen von (der Überlieferung nach) besonders «heiligen» Menschen eine besondere, grössere Gottesnähe zu erfahren. Diese Vorstellung hat in der Bibel keinen Anhaltspunkt – im Gegenteil: Dort wird Gottes Nähe nicht an bestimmte Gegenstände gebunden, und in vielen biblischen Texten wird jede Verehrung von Geschöpfen als Aberglaube, ja Gotteslästerung verurteilt. «Heilig» lebende Menschen der Vergangenheit können Vorbilder für ein christliches Leben sein, aber ihre Überreste können nicht Gottes Gegenwart vermitteln, so wenig wie dies Bilder von Heiligen können. So die bis heute geltende «reformierte» Überzeugung (meiner Erfahrung nach wird sie von den meisten Schweizer Katholiken geteilt – im Unterschied zu anderen katholischen Orten wie Süditalien oder Südamerika).
Entsprechend beschloss der Zürcher Rat im Juni 1524, die Särge von Felix und Regula aus der Kirche zu entfernen und, falls Knochen darin gefunden werden, diese «ehrlich und still zu vergraben», also zu beerdigen. Es gibt aber auch eine kurze alte Notiz, dass die Reliquien von Felix und Regula heimlich nach Andermatt gebracht worden seien. Das ist eigentlich alles, was man quellenmässig weiss. Der erwähnte Ratsbeschluss ist sicher historisch, das andere ist weniger gesichert.
Inwiefern war das Verschwinden der Reliquien von Felix und Regula ein Verlust für Zürich – spirituell, kulturell oder identitätsstiftend?
Diese Frage lässt sich nicht neutral beantworten. Ich bin ein (eher liberaler, aber eben doch) reformierter Theologe und urteile deshalb: Die Legendengestalten Felix und Regula gehören zu Zürichs historischer Identität. Zudem sind es die frühesten Zeugen des Christentums auf Zürcher Gebiet und gehören insofern allen christlichen Konfessionen. Erinnerungsorte in Form von Bildern u. ä. können hier hilfreich sein.
Der Reliquienkult ist davon zu unterscheiden. Er ist im Verlauf des Mittelalters entstanden, und die damit verbundenen religiösen Vorstellungen sind nicht christlich, sondern stammen religionsgeschichtlich aus vorchristlichen Zeiten. Sinn machen Reliquien nur für Menschen, die das oben Beschriebene glauben – was für mich nicht zutrifft und sicherlich für die meisten Zürcherinnen und Zürcher auch nicht. Auch die Schweizer Katholiken sind heutzutage kaum für Reliquienfrömmigkeit zu begeistern, obwohl diese immer noch katholischer Lehre entspricht, auch dem 2. Vatikanum (allerdings wird dort sehr vorsichtig und schwammig formuliert und nicht dazu aufgefordert).
Was ist die Bedeutung der Reliquien und der Legende insgesamt heute für Zürich?
Siehe oben. Zudem: Reliquienverehrung oder auch nur -feste lassen sich in einer seit 500 Jahren reformierten und heute säkular-pluralistischen Stadt nicht einfach wieder einführen. Anderswo gibt es lange Traditionen: In Trier gehört das Heilige-Rock-Fest zum kulturellen Brauchtum weit über den eigentlichen Katholizismus hinaus; so kann man es weiterpflegen, auch wenn niemand mehr ernsthaft an den ursprünglichen religiösen Gehalt glauben würde. Tradition eben.
Was sagen solche Rettungsgeschichten über den innerkirchlichen Widerstand zur Reformation aus? Gab es einen heimlichen katholischen Untergrund?
Natürlich waren nicht alle Zürcherinnen und Zürcher für die Reformation (wohl aber die klare Mehrheit der Räte), und es gab natürlich einen solchen «Untergrund» (sichtbar in heimlichen Messbesuchen in anderen Kantonen). Im 16. Jahrhundert kannte man kein Minderheitenrecht. Was die Mehrheit oder der von den Zünften gewählte Rat entschied, galt für alle. Wer nicht einverstanden war und sich nicht beugen wollte, musste das Land verlassen. Das galt für katholische wie für reformierte Gebiete.
Warum hielt man es für wichtig, die Reliquien 1988 naturwissenschaftlich zu untersuchen – und wie geht die Kirche heute mit solchen Resultaten um?
Hier fragen Sie besser einen reliquiengläubigen Katholiken. Natürlich wäre ein wissenschaftlicher Nachweis, dass ein Knochen oder Tuch nicht von dem betreffenden Heiligen stammen kann, ein Problem für Menschen mit einem noch traditionellen «magischen» Reliquienverständnis. Aber in der katholischen Kirche der aufgeklärten Länder wird die Reliquienfrömmigkeit sowieso zumeist geistlich so umgedeutet, dass es keine Rolle mehr spielt, ob ein Knochen oder Gegenstand «echt» ist oder nicht.