Dieses Interview entstand im August und September 2025 im Rahmen einer Recherche für einen Artikel von Swissinfo, der hier erschienen ist. Im Gespräch geben die Anthropologen Marco Milella (Universität Bern) und Zita Laffranchi (Universität Zürich) Einblick in ihr aktuelles Forschungsprojekt zur Mobilität und sozialen Organisation der keltischen Gruppen in der Spätlatènezeit.
Die Region zwischen Schweiz und Norditalien spielte damals eine Schlüsselrolle: Sie war nicht nur Durchgangsraum für Menschen, Tiere und Waren, sondern auch ein kultureller Korridor, in dem sich verschiedene Einflüsse begegneten und mischten.
Das Projekt verknüpft archäologische, anthropologische, isotopische und genetische Analysen, um die Lebensweise und Verwandtschaftsstrukturen dieser Gemeinschaften besser zu verstehen. Im Fokus steht die Frage, wie stark Mobilität und Migration das soziale Gefüge prägten und ob die Alpen eine Grenze oder vielmehr eine Brücke darstellten.
Milella und Laffranchi zeigen, dass schon in der späten Eisenzeit Austausch, Migration und kulturelle Vielfalt zentrale Themen waren – Themen, die uns auch heute beschäftigen.
Ich hoffte und hoffe immer noch, dass diese Arbeit in Zukunft auch dazu beitragen kann, den «Gallischen Krieg» von Julius Cäsar und andere historische Überlieferungen mit harten Fakten zu unterlegen – und damit ein präziseres Bild der finalen Jahrzehnte des keltischen Helvetiens zu zeichnen.
Warum interessiert Sie die Spätlatènezeit in der Schweiz und in Norditalien besonders?
MM, ZL: Norditalien war in der Spätlatènezeit geprägt von Wanderbewegungen aus verschiedenen Teilen Mitteleuropas – darunter auch aus dem Gebiet der heutigen Schweiz. Für Norditalien gab es bislang keine Mobilitäts- oder Migrationsanalysen aus dieser Zeit, und auch für die Schweiz nur sehr wenige. Das weckte unser Interesse, vor allem in Bezug auf die sozialen Begleiterscheinungen dieser Wohnortsveränderungen und ihre Bedeutung für die kulturelle Landschaft in den jeweiligen Regionen. Dass wir beide (MM und ZL) aus Norditalien stammen und in der Schweiz gelebt und gearbeitet haben, verlieh diesem Projekt auch eine persönliche Dimension.
Gab es einen konkreten Fund oder eine Beobachtung, die den Anstoss für dieses Projekt gaben?
ZL: Ich komme aus Verona (Norditalien) und habe während meiner Promotion die keltischen Gruppen der Veroneser Gegend untersucht. Schon damals fielen mir – wenn auch zunächst explorativ – archäologische und anthropologische Hinweise auf eine mögliche Durchmischung von Menschen und Kulturen auf. Chemische Analysen einiger Skelette deuteten tatsächlich auf eine Herkunft aus kälteren, transalpinen Regionen hin. Gleichzeitig ermutigte uns der Austausch mit Archäologinnen und Anthropologinnen in der Schweiz, die «Kelten» der Schweiz und Norditaliens nicht nur kulturell, sondern auch biologisch zu vergleichen – um das Ausmass einer möglichen Vermischung zwischen transalpinen und cisalpinen Gruppen aus genetischer Sicht zu erforschen.
Welche Fragen zur Herkunft und Mobilität dieser «keltischen» Gruppen möchten Sie beantworten?
MM, ZL: Dieses Projekt bietet die seltene Gelegenheit, diese Menschen aus zwei sich ergänzenden Perspektiven zu betrachten: biologisch und kulturell. Genetische und anthropologische Analysen liefern wichtige Daten, um ihre Beziehungen zu anderen Menschengruppen (vor und nach der Eisenzeit) in beiden Regionen zu verstehen. Auf einer detaillierteren Ebene wäre es spannend zu prüfen, ob sich Mobilität auch in der Lebensweise widerspiegelte – und anhand der Bestattungen zu erkennen, wie die Gemeinschaft die Betroffenen wahrnahm. Die DNA-Analysen ermöglichen zudem, Verwandtschaftsbeziehungen in den einzelnen Kontexten zu identifizieren und – indirekt – deren Einfluss auf die Bestattungspraxis zu untersuchen.
Erwarten Sie eher Bevölkerungsdurchmischung oder voneinander isolierte Gemeinschaften?
MM: Wir rechnen mit einer gewissen lokalen Variabilität. Norditalien lag kulturell und geografisch an einem Kreuzungspunkt verschiedener Einflüsse (transalpin, italisch, römisch). Es wird spannend sein zu sehen, ob sich dies auch in den Mobilitäts- und DNA-Daten widerspiegelt. Für die Schweiz erwarten wir vor allem in grösseren Zentren (z. B. Brenodor, Aventicum) mehr Dynamik. Unsere jüngsten Isotopenstudien bestätigen diese Hypothese – aber die genetischen Daten werden hier entscheidend sein.
Wie könnte ein typisches «Leben über die Alpen hinweg» damals ausgesehen haben?
MM, ZL: Das Leben war sicher hart, voller Herausforderungen und Hindernisse – nicht nur physisch und klimatisch, sondern auch wegen der Gebirgsketten, die es zu überqueren galt. Dennoch stellten die Alpen keine Barriere dar: Im Gegenteil, unsere Daten zeigen deutlich, dass sie als Korridor für den Austausch von Gütern, Tieren, Menschen, Ideen und Kulturen dienten.
Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich bei Material aus alpinen Fundorten?
MM, ZL: Die Zahl der verfügbaren Skelette variiert stark. Während manche Nekropolen wie Münsingen-Rain gut überliefert sind, liefern andere nur wenige verstreute Funde – oft, weil sie zufällig bei Bauarbeiten entdeckt und selten vollständig ausgegraben wurden. Hinzu kommt, dass saure und feuchte Böden die Erhaltung von Knochen und Zähnen erschweren – was besonders Regionen wie das Tessin betrifft, die eigentlich für die Erforschung transalpiner Mobilität zentral wären.
Wie verbinden Sie Laboranalysen mit archäologischen Befunden zu einem Gesamtbild?
MM: Das ist anspruchsvoll – für mich aber ein Hauptgrund, solche Projekte durchzuführen. Ältere Grabungen liefern oft weniger Bestattungsdaten als neuere, was Vergleiche erschwert. Unsere Daten (Bestattungen, Isotope, Anthropologie, Genetik usw.) zeigen immer nur Teilaspekte einer komplexen Realität. Doch ein integrativer Ansatz kann spannende Einsichten ermöglichen: Wir nutzen moderne statistische Methoden, um Muster zu erkennen, und recherchieren systematisch in Archiven, um möglichst viele Individuen zu finden, für die sowohl anthropologische als auch funeräre Daten vorliegen – und die wir dann genauer untersuchen können.
Welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten erwarten Sie zwischen den Gemeinschaften nördlich und südlich der Alpen?
MM, ZL: Wir gehen davon aus, dass Norditalien eine grössere kulturelle und anthropologische Vielfalt zeigt – bedingt durch die Nähe zu unterschiedlichen Gruppen und durch die spätere Chronologie im Zuge der beginnenden Romanisierung. Für die Schweiz erwarten wir zwar ebenfalls Veränderungen, vermuten aber eher eine Mobilität innerhalb einer stärker lokal geprägten Kultursphäre.
Gibt es konkrete Hypothesen, die Sie prüfen?
MM, ZL: Das Projekt dreht sich um drei zentrale Fragen:
1. Wie sah die genetische Geschichte und Variabilität der «keltischen» Gruppen in der Schweiz und in Norditalien aus?
2. Welche Formen und welches Ausmass von Mobilität kennzeichneten diese Bevölkerungen?
3. Lassen sich Zusammenhänge zwischen Mobilität, Verwandtschaft und sozialer Organisation erkennen – sowohl innerhalb der Regionen als auch im Vergleich Schweiz/Norditalien?
Warum ist dieses Wissen heute relevant?
MM, ZL: Weil diese Fragen – Migration, kulturelle Vielfalt, Selbstverständnis von Gemeinschaften – bis heute zentral sind. Indem wir genetische Geschichte, Mobilität und Sozialstrukturen früherer Bevölkerungen erforschen, gewinnen wir eine Langzeitperspektive darauf, wie Menschen sich immer schon bewegten, vermischten und anpassten. Die späte Eisenzeit war eine Zeit intensiver Verbindungen in Europa: Menschen, Ideen und Dinge zirkulierten weit. Zu verstehen, wie lokale Gemeinschaften darauf reagierten, hilft uns, die tieferen Wurzeln heutiger Fragen zu begreifen – etwa zu Identität, Integration und dem Zusammenspiel von lokalen Traditionen und überregionalen Netzwerken.
Eine der wenigen schriftlichen Quellen dieser Zeit ist Caesars «Gallischer Krieg», in dem die Wanderung der Helvetier (ca. 58 v. Chr.) beschrieben wird. Planen Sie, Ihre Daten zur Kontextualisierung solcher Quellen zu nutzen?
MM, ZL: Nur indirekt – die Schweizer Fundkontexte dieses Projekts datieren etwas früher. Doch unsere biologischen und kulturellen Erkenntnisse können helfen, solche historischen Überlieferungen besser einzuordnen.
Gibt es Aspekte von Caesars Bericht, die Sie mit Ihren Daten prüfen oder besser verstehen möchten?
MM, ZL: Besonders spannend wäre es langfristig, unsere Daten mit solchen aus anderen mitteleuropäischen Regionen – etwa Frankreich – zu vergleichen. Das würde eine grössere Vergleichsebene schaffen und zugleich einen direkteren Blick auf Mobilitätsprozesse ermöglichen, die auch in historischen Quellen belegt sind.
Welche Spuren (Skelette, Isotope, Funde) könnten auf Migration, Konflikte oder Kontakte mit anderen Gruppen hinweisen?
MM, ZL: Das menschliche Skelett ist ein faszinierendes Archiv: Verletzungen erzählen von Konflikten, Unfällen, harter Arbeit oder Ritualen. Isotopenanalysen rekonstruieren Ernährung und Bewegungen im Lebensverlauf, manchmal sogar Herkunftsorte. Die materielle Kultur zeigt soziale Codes, Normen und den Status der Bestatteten. DNA ergänzt dies um die Rekonstruktion von Familienbindungen und langfristigen Verbindungen zwischen Menschengruppen.
Könnte Ihre Forschung helfen, zu klären, ob die Helvetier vor dem römischen Kontakt eher homogen oder bereits heterogen waren?
MM, ZL: Die laufenden DNA-Analysen werden auch hierzu Hinweise liefern – insbesondere, wenn künftig auch spätere Genome (römisch, frühmittelalterlich) aus derselben Region einbezogen werden können.
Ich stellte noch ein paar Nachfragen:
Gibt es schon Hinweise, ob die Helvetier eher homogen oder gemischt waren?
ZL: Erste Ergebnisse von EURAC Research in Bozen deuten darauf hin, dass die Schweizer Proben im Vergleich zu den italienischen relativ homogen wirken. Die Daten sind allerdings noch vorläufig und müssen bestätigt werden. Möglich ist, dass der Unterschied mit verschiedenen Zeitstellungen der Funde zu tun hat.
Lassen sich in Ihren Befunden Muster erkennen, die Caesars Bericht über die helvetische Wanderung stützen oder infrage stellen?
MM, ZL: Isotopenanalysen zeigen nur wenige mobile Individuen in den Schweizer Gräbern – meist aus naheliegenden Regionen wie Frankreich, Süddeutschland oder Norditalien. Das spricht für ein insgesamt stabiles, lokales Umfeld mit punktuellen Kontakten. Mit Vorsicht lassen sich diese Muster teilweise mit Caesars Schilderung vergleichen. Für eine fundierte Gegenüberstellung wären aber ältere und umfangreichere Proben nötig.
Gab es kontinuierliche Mobilität über Generationen oder markante Migrationswellen?
MM, ZL: Von klaren Migrationswellen ist nichts zu sehen. Die Daten weisen eher auf eine kontinuierliche, individuelle Mobilität hin – einzelne Zuzüge in eine ansonsten stabile Bevölkerung. Fremde tauchen regelmässig auf, aber nicht in grosser Zahl oder als abrupte Bewegung.
Sind in den jüngsten Bestattungen schon Spuren römischen Einflusses erkennbar?
ZL: Ja – etwa neue Keramikformen wie Schwarzfirnisware, veränderte Rituale und das Verschwinden von Waffen in den Gräbern. Diese Entwicklungen passen zum allgemeinen Prozess der Romanisierung, lassen sich aber nicht direkt auf Caesars Feldzug zurückführen.
Woran arbeiten Sie derzeit, und wann wird die Forschung abgeschlossen sein?
MM: Die Projektfinanzierung lief im Mai 2024 aus, doch wir haben umfangreiche Isotopen- und Genomdaten gesammelt. Diese werden in den kommenden Jahren ausgewertet und publiziert. Im Zentrum stehen aktuell die Mobilitätsmuster in latènezeitlichen Friedhöfen rund um Verona und ihre Verbindungen zu paläovenetischen und etruskischen Traditionen sowie zur frühen römischen Präsenz. Auch die DNA-Analysen laufen weiter. Das Projekt ist also noch lange nicht abgeschlossen.